Kritik der österreichischen Selbstverwaltung am deutschen Krankenkassensystem – ein Faktencheck

Es ist immer wieder überraschend, aber auch erheiternd, wie Vertreter der ö. Selbstverwaltung  & Co über das deutsche Krankenkassensystem herziehen und fehlinformieren. In Grunde genommen widerlegt es genau das, was der Hauptautor der LSE-SV-Studie, Prof. Elias Mossialos, vor kurzem gemeint hat. Er stellte nämlich fest, dass „alle Länder glauben, andere Länder hätten viel bessere Gesundheitssysteme“.

ABER das ist in Österreich eben genau nicht der Fall, stattdessen immerwährende Selbstbeweihräucherung. Denn entgegen der Fehlinfos der öst. Selbstverwaltung, ist das österreichische Krankenkassensystem deutlich verwaltungsintensiver, unsolidarischer und undynamischer als das deutsche Krankenkassensystem. Im Faktencheck des Beitrags (zweite Hälfte) befinden sich die empirischen Belege.

Wer verbreitet Fehlinformation über das deutsche Krankenkassenwesen

Fehlinformation über das deutsche Krankenkassensystem (GKV), bezüglich Risikoselektion, Verwaltungskosten, Werbeausgaben, Kosten der Kassenfusionen,… stammen in der Regel von der Gewerkschaft, der Arbeiterkammer und den Kassen selbst (LINK, LINK, LINK, LINK). Also Instituionen, die entweder direkt oder indirekt mit der Funktionärsriege der öst. Kassen verbandelt sind. Grundsätzlich kann ich mir die laufende und etwas fragwürdige Kritik  der öst. Selbstverwaltung am deutschen Kassensystem nur folgendermaßen erklären. Der durchschnittliche Selbstverwaltungs-Funktionär findet es einfach gemütlicher nichts zu tun, anstatt sich das deutsche Kassensystem mal näher anzusehen und sich davon etwas abzuschauen. Und das deutsche Kassensystem wär eine hervorragende Vorlage für die nötigen, austehenden Reformen. Allein in meinen vier Jahren Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK) hab ich zahlreiche Gesetzesänderungen, System-Anpassungen und Gutachten miterlebt (Versorgungsstärkungsgesetz, KH-Qualitäts-Vergütungsgesetz, Annualisierung, kassenindividueller Zusatzbeitrag, Innovationsfonds, zahlreiche Gutachten), die in Österreich in 40 Jahren nicht zustande kämen. Für mich ist der deutsche Kassenwettbewerb für die hohe Dynamik ursächlich, da jede Kasse ständig versucht einen Wettbewerbsvorteil rauszuholen. Und da in Österreich nicht mal ansatzweise Wettbewerb vorhanden ist, ist das System irgendwann völlig erstarrt, zu dem was es jetzt ist.

Charakteristik des deutschen Krankenkassensystems

Es gibt praktisch seit Jahrzehnten kaum Entwicklung im österreichischen Kassensystem. So sind wir bezüglich Verteilungsgerechtigkeit mittlerweile eines der unsolidarischten Krankenkassensysteme europaweit, gekennzeichnet durch systematische, fixierte Risikoselektion.

Die Deutschen haben hingegen einen umfassenden Risikostrukturausgleich (Alter und Morbidität) zwischen den Krankenkassen, der laufend verbessert wird und für bedarfsgerechte Finanzausstattung der Kassen sorgt. Sollte dem Versicherten danach seine Kasse immer noch nicht passen, kann er zu einer anderen wechseln - in der GKV ist der Versichterte ist König, nicht die Kasse. Zwar sind 95% der Leistungen vereinheitlicht (EBM; LINK), aber trotzdem können sich die Kassen über Zusatzleistungen oder mehrere mögliche Versorgungsverträge (DMP-, Hausarzt- u. IGV-Verträge) unterscheiden. Versorgt eine Kasse überdurchschnittlich und kann es nicht durch überdurchschnittliche Effizienz finanzieren, dann muss sie Zusatzbeiträge erheben. Eine deutsche Kasse kann also nicht auf Kosten der anderen Kassen ihre Versorgungsstrukturen hochfahren, wie es im GKK-System möglich ist und von Wiener GKK praktiziert wird. Die Wiener GKK wäre im deutschen System, wo es keinen Ineffizienz-stiftenden Liquiditätsausgleich und Regionalausgleich gibt (siehe „Ausgleichsfonds der GKKn“), wahrscheinlich längst pleite. Auch die „Finanzierung aus einer Hand“ ist in Deutschland seit Ewigkeiten umgesetzt, was den Anreiz zu „ambulant vor stationär“ fördert. Denn wer die oben erwähnten Vertragsmöglichkeiten nutzt und seine Versicherten bereits im ambulanten Bereich entsprechend versorgt, kann massive Einsparungen erzielen. Was das deutsche System ebenfalls auszeichnet, ist, dass  von Seiten der Kassen offen diskutiert wird, Unmut offen ausgedrückt wird und das System insgesamt transparenter ist – siehe Link zu Beitrag von Diskussion zwischen Krankenkassen (LINK). So einen offenen Positionsaustausch zwischen den Kassen gibt es in Österreich nur selten, zuletzt im dritten Teil der LSE-Studie (LINK) – unbedingt durchlesen, das werden wir so schnell nicht mehr erleben.

FAKTENCHECK

Aber fangen wir endlich mit einem Faktencheck an. Wie sehr stimmt das wirklich, was AK, Gewerkschaft und die öst. Kassen über das deutsche Kassensystem verbreiten.  Betrachten wir zu Beginn einen Satz aus einer aktuellen ÖGB-AK-Publikation (August 2017).

Propaganda-Keule 1: „Das System der Pflichtversicherung ist effizient und effektiv, weil es einen Risikostrukturausgleich gewährleistet und mit einem niedrigen Verwaltungsaufwand funktioniert.“  (LINK)

Das sind 3 Fehlinfos in einem Satz, einfach mal dahin geschrieben, völlig ohne Beleg. Dass die Pflichtversicherung nicht effizienter und definitiv nicht weniger Verwaltungsaufwand garantiert, wird unter Punkt 2 gezeigt. Außerdem setzt die öst. Pflichtversicherung weniger stark auf DMP-, Hausarzt- und IGV-Modelle und kennt keine „Finanzierung aus einer Hand“. Sie kann daher kaum effektiver als das deutsche Krankenkassenwettbewerbssystem (Versicherungspflicht) sein. Was ich aber als erstes entschieden widerlegen will, ist, dass das österreichische Krankenkassensystem einen Risikostrukturausgleich garantiert. Den gibt es bei uns nicht in umfassender Form, viele nennen unserer System daher “Mehr-K(l)assen-System”. Sprich: es ist ungerecht und gekennzeichnet durch systematische, fixierte Risikoselektion. BVA gute Risiken, GKK schlechte Risiken.  Einen alle Kassen umfassenden RSA, der Risikostrukturausgleich garantiert und Riskoselektion verhindert, so wie in Deutschland, ist bei uns sogar verfassungsrechtlich verboten! (LINK, LINK) Da greift man sich auch als Wirtschaftsliberaler (Credo: Startgerechtigkeit) echt auf den Kopf! Es gibt lediglich einen marginalen Risikostrukturausgleich zwischen den GKKn („Ausgleichsfonds der GKKn“), und selbst der ist laut RH stark reformbedürftig, da er viel zu klein ist und auch Faktoren ausgleicht, die von den Kassen beeinflusst werden (regionales Angebot), was zu Ineffizienzen verleitet (LINK, LINK). Da wir keinen umfassenden Risikostrukturausgleich wie in Deutschland haben, gibt es bei den Krankenkassen einen gewaltige Spreizung was die Finanzausstattung betrifft. Dieser negative Umstand spiegelt sich in der Vermögensverteilung wider (siehe Abb. 1). Die GKKn könnten sich im Grunde genommen die geforderte Leistungsharmonisierung nach oben in der derzeitigen Situation gar nicht leisten. Und ohne die nötigen Verfassungsänderungen, um mehr Solidarität und einen umfassenden RSA nach deut. Vorbild zu ermöglichen, wird daraus auch mittelfristig nix werden…

Abb. 1: Krankenkassenvermögen

Propaganda-Keule 2: „Deutsche Krankenkassen haben doppelt so hohe Verwaltungskosten“

Also diesen Punkt hab ich bereits mehrfach widerlegt (LINK, LINK), die österreichischen Krankenkassen verwalten sogar etwas höher als deutsche Krankenkassen (siehe unten). Meine Berechnung wurde sogar von der Wirtschaftskammer in der WK-SV-Studie aufgegriffen (LINK). Der Trick der öst. Kassen ist, dass sie Verwaltungskosten in mehrere Ausgabenkategorien aufteilen, nämlich in den Verrechnungsaufwand die Abschreibungen, den Vertrauensärztlichen Dienst und in die sonstigen betrieblichen Aufwendungen. Als Verwaltungsaufwand wird im Anschuss nur der Verrechnungsaufwand ausgewiesen. Die deutschen Krankenkassen fassen gleich alle Positionen zu Verwaltungskosten und sonstige betriebliche Aufwendungen zusammen. Rechnet man entsprechend um, verwalten die öst. Krankenkassen sogar etwas teurer als die deutschen Krankenkassen, grundsätzlich aber immer noch günstig (siehe Abb. 2)

Abb. 2: Verwaltungskostenquote Österreich und Deutschland (Quelle: SV, KJ1-KV45)

 

Propaganda-Keule 3: „Deutsche Krankenkassen stecken beträchtlichen Teil Werbung“

Keine Ahnung wieso die österreichische Selbstverwaltung das ständig behauptet, auf jeden Fall liegt die Werbungsausgabengrenze in der deutschen GKV bei 2,5 Euro je Versicherten. 2016 betrugen die Werbeausgaben in der GKV bei 170 Mio. Euro oder 0,076% der Gesamtausgaben, also fast gar nix (siehe Abb. 3). Aber auch die österreichischen Nicht-Wettbewerbskassen haben Öffentlichkeitsausgaben, nur nicht umfassend veröffentlicht. Von der ausgewiesenen Ausgaben der Wiener GKK kommt man schätzungsweise auf ca. 5 Mio. Euro Werbeausgaben für alle ö. Kassen pro Jahr (siehe Abb. 4).

Abb. 3: Werbeausgabenquote in der GKV

 

Abb. 4: Werbeausgaben in der Wiener GKK

Propaganda-Keule 4: „Ältere, morbide Menschen finden bei deutschen Krankenkassen nur schwer Versicherungsschutz.“

Also dieses Argument gegen die deutschen Krankenkassen verursacht bei mit nur Kopfschütteln. Es zeigt nur, dass sich die öst. Selbstverwaltung mit dem deutschen System kaum beschäftigt. Keine Krankenkasse in der GKV kann einen potentiellen Versicherten ablehnen, auch wenn er noch so alt und morbid ist. Und Spätestens seit der Einführung des Morbi-RSA (2009) und der überproportionalen Hochrechnung der Verstorbenen-Ausgaben (2013) sind die älteren Krankenkassen(-Lager) (AOK + KBS) gegenüber die jüngeren Krankenkassen(-Lagern) (VDEK + BKK + IKK) signifikant systematisch im Vorteil. Sehr deutlich sieht man das an den Finanzergebnissen (siehe Abb. 5). Bereinigt man um die unterschiedlich hohen Zusatzbeiträge, sind die Unterschiede sogar noch höher. Mittlerweile zahlt es sich gar nicht mehr aus, ältere Menschen gesund zu halten, da mit älteren, multimorbiden Versicherten Morbi-Zuschläge lukriert werden können, die zu Kostendeckungsgraden von bis zu 150% führen. Also keine Spur von Anreizen zu Risikoselektion!

Abb. 5: Finanzergebnisse in der GKV

AOK… Allgemeine Ortskrankenkassen (ca. 26 Mio. Versicherte)

KBS… Knappschaft (ca. 2 Mio. Versicherte)

VDEK… Ersatzkrankenkassen (ca. 26 Mio. Versicherte)

BKK… Betriebskrankenkassen (ca. 11 Mio. Versicherte)

IKK… Innungskrankenkassen (ca. 6 Mio. Versicherte)

Propaganda-Keule 5: „Kassenfusionen und große Kassen verwalten viel teurer“

Dieses Argument ist sehr häufig verbreitet in Österreich, aber leider völlig falsch. Seit 2000 hat sich die Zahl der deutschen Krankenkassen von 420 auf 118 reduziert, die durchschnittliche Größe der Kassen ist gleichzeitig von 170.000 Versicherten auf 600.000 Versicherte angestiegen. Und was ist passiert, die Verwaltungskostenquote ist von 6,2% auf 5,6% gefallen (siehe Abb. 6). Die Verwaltungskostenquote wäre sogar noch stärker gefallen, wenn nicht Kassen mit der steigender Größe zusätzliche Aufgaben übernommen hätten. Größere Kassen beschäftigen sich nämlich zunehmend mit Versorgungsforschung, unterhalten eigene Forschungsinstitute (z.B.: AOK-WIDO LINK oder TK-WINEG LINK) oder beschäftigen sich mit Behandlungsqualität, neuen Versorgungsformen und der Veröffentlichung von KH-Qualitätsindikatoren. Alles Aufgaben, die von öst. Kassen nur stiefmütterlich behandelt werden.

Abb. 6: Zahl der Krankenkassen und Verwaltungsquote

Abschließend:

Ich hab einiges gelernt in meiner Zeit im deutschen Krankenkassensystem, ich kann nur jeden empfehlen es mir nachzumachen. Es ist für mich immer etwas befremdlich, wenn die öst. Selbstverwaltung über das deutsche System herzieht. Darum war es mir ein Anliegen das innovative, deutsche Krankenkassensystem mit zu Zahlen zu verteidigen. Meiner Meinung nach hat der durchschnittliche Selbstverwaltungs-Funktionär extreme Angst vor Veränderung und Arbeit. Deshalb will er lieber ein sozial ungerechtes System, wo es keinen Riskoausgleich zwischen Risikogruppen gibt (verfassungsrechtlich ungersagt!), beibehalten haben, anstatt etwas zu tun. Und da er in seiner Untätigkeit nicht gerstört werden will, beginnt er halt lieber gegen andere Systeme Fehlinformationen zu verbreiten, anstatt das eigene System zu verbessern. Ich kann Hans Rauscher’s (Standard) Kritik an den doppelmoralischen Selbstverwaltungs-Funtkionären nur bestätigen (LINK). Der durchschnittliche Selbstverwaltungs-Funktionär fordert nur von anderen Verteiliungsgerechtigkeit. Im eigenen öffentlichen Bereich ist sein Engagement dafür aber nur unter-unter-unterdurchschnittlich existent…

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